Islamismus / Türkischer Ultranationalismus
In den letzten Jahren hat sich die islamistische Organisationslandschaft in der Bundesrepublik erheblich ausdifferenziert. Das betrifft vor allem das legalistische Spektrum, in dem zwar keine Gewalt propagiert jedoch die ideologischen Grundlagen gelegt werden. Die Religion wird hier für gesellschaftliche und politische Ziele benutzt. Deshalb ist eine gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dieser Ideologie im Kontext ihres Verhältnisses zur Demokratie und den universellen Menschenrechten unabdingbar. Dabei geht es nicht um den Islam als Religion. Die islamistische Ideologie beruht auf speziellen Interpretationen des Islam, der nur eine deutliche Minderheit der Muslime folgen.
Hier den Überblick zu behalten und auch die Kompetenz zu entwickeln, zwischen konservativ religiösem oder traditionellem Agieren und islamistischer, die Demokratie zumindest in Teilen angreifender Ideologie zu differenzieren, bedarf einer ständigen und intensiven Auseinandersetzung. Dazu gehört eine Analyse der einzelnen Strukturen und Netzwerke, der Bündnisse und internen Machtkämpfe, sowie das Studium der Schriften und Quellen der jeweiligen Gruppe, ihre Arbeit vor Ort, ihre Argumentationen nach innen sowie nach außen, propagierte Feindbilder und Feindgruppen, sowie die Einschätzung ihrer Relevanz und ihres Vermögens, Menschen an sich binden zu können.
Besonders den zahlreichen relativ jungen und charismatischen deutschsprachigen Imamen der Salafiyya ist es gelungen, Menschen ganz unterschiedlicher Prägung anzusprechen und in ihren ideologischen Bann zu ziehen. Sowohl junge Männer als auch Frauen fühlen sich hingezogen zu den offerierten radikalen Islamauslegungen dieser Imame, den scheinbar einfachen und einleuchtenden Antworten, die „der Islam“ auf alle ihre Fragen gibt. Mit ihrer gegen das demokratische System gerichteten Ideologie und dem Ideal einer streng an der wortwörtlichen Lesart des Koran ausgerichteten islamischen Gesellschaft legen sie eine Grundlage, auf der auch gewaltbereite Islamisten aufbauen können. Wie auch die weniger radikal auftretenden islamistischen Organisationen greifen sie Demütigungs- und Diskriminierungserfahrungen von Muslimen in Deutschland auf und versuchen, darauf eine abgrenzende Gemeinschaftsidentität mit eigenen, religiös interpretierten Werten und Normen aufzubauen, die sehr stark von Ungleichwertigkeiten geprägt ist. Die konservativen Ethik- und Moralvorstellungen, die das gesamte Alltagsverhalten zu bestimmen haben, werden den demokratischen Grundwerten, wie Liberalität, Individualität, religiöser und politischer Meinungsfreiheit sowie sexuellem Selbstbestimmungsrecht, gegenüber gestellt, um damit die moralische Überlegenheit einer „islamischen“ Gesellschaftsordnung gegenüber der Demokratie zu begründen.
Seit Mitte der 90er Jahre kommt hinzu, dass sich die verschiedenen islamistischen Organisationen und Ideologen nicht mehr nur auf die Unterstützung der Mutterbewegungen in den Herkunftsländern konzentrieren, sondern die Anwesenheit von Muslimen und „des Islam“ in Europa als dauerhaft und damit als Faktor der Implementierung islamistischer Gesellschaftsvorstellungen in Europa erachten. Europa ist zum „dar al-da’awa“ (Haus der Mission/Bekanntmachung mit dem Islam) bzw. „dar al-sulh (Haus des Gesellschaftsvertrages) geworden, ein umfangreiches Netzwerk an religiösen und sozialen Vereinen, Bildungsstätten, Kindergärten, Schulen, Studenten- und Jugendgruppen usw. ist entstanden, die sich mit der Präsenz „des Islam“ in Europa auf sozialer, pädagogischer und politisch-ideologischer Ebene auseinandersetzen. All diese Gruppierungen setzen sich sehr unterschiedlich mit den Herausforderungen der Moderne auseinander, entwickeln eigene Zugänge und Strategien des Umgangs und der Reaktion.
Gleiches trifft auf ultranationalistische Gruppierungen im türkischen Bereich zu, wo weniger der Islam instrumentalisiert wird, sondern mit einem türkisch-völkischen und rechtsextremen Weltbild Ungleichwertigkeiten und Feindbilder propagiert und bereits Kleinkindern anerzogen werden. Gerade in diesem Bereich sind seit einigen Jahren wieder vermehrt Aktivitäten im organisierten Bereich zu beobachten, einschließlich einer von den Symbolen und Stereotypen diese Organisationen beeinflussten aber unabhängig sich entwickelnden Jugendkultur. Führerkult, antisemitische Verschwörungstheorien, eine äußerst menschenverachtende vulgäre Sprache sowie Gewaltaffinitäten prägen dieses Spektrum. Das trifft in ähnlicher Form auch auf Teile des türkischen und kurdischen Linksextremismus zu.
Um Handlungsstrategien zu entwickeln, Ängste und Vorurteile abzubauen und den propagierten antidemokratischen Weltsichten auch argumentativ begegnen zu können, bedarf es angesichts der hier skizzierten Komplexität fachlicher Unterstützung.